Abschiedsschau: Lin May Saeed im Berliner Kolbe-Museum  |  | Ausstellung „Lin May Saeed. Im Paradies fällt der Schnee langsam – Ein Dialog mit Renée Sintenis“ | |
Es sollte ihre erste museale Einzelschau in Deutschland werden. Doch Lin May Saeed starb wenige Tage vor Ausstellungsbeginn Ende August in Berlin an ihrer Krebserkrankung. Seit gestern präsentiert das Georg-Kolbe-Museum nun ihr künstlerisches Vermächtnis. Zu sehen sind Skulpturen, Zeichnungen, Reliefs und raumgreifende Scherenschnitte der 1973 in Würzburg geborenen deutsch-irakischen Künstlerin, die sich seit über zwanzig Jahren mit dem Leben von Tieren und den Beziehungen zwischen Tier und Mensch beschäftigt. So klettern nun Styroporkreaturen aus ihren Käfigen und besiedeln die Räume des Museums, Drahthummer befreien sich mit ihren Scheren aus der Gefangenschaft ihres Gitternetzes und Figuren der antiken Sagenwelt reflektieren in arabischsprachigen Poesien das eng verbundene Geflecht zwischen Tier und Mensch.
Ausgehend von der Tierrechtsbewegung erzählen Lin May Saeeds Arbeiten mit viel Einfühlungsvermögen alte und neue Geschichten von der Unterwerfung und Befreiung der Tiere und fordern auch mit Humor zu einer neuen Solidarität und Koexistenz zwischen den Arten auf. Saeed konnte dabei auf ihr breites kulturhistorisches Wissen zu Märchen und Fabeln zurückgreifen und schöpfte aus westlichen Traditionen, genauso wie aus ihrem deutsch-jüdisch-arabischen Erbe, wobei sie so unterschiedliche Bezüge wie zwischen der Animal Liberation Front, expressionistischen Holzschnitten und dem alten Mesopotamien herstellte und dieses Amalgam zu einer immer hoffnungsvollen Gegenwartskritik formte. So griff sie bei ihrer Skulpturengruppe „Seven Sleepers“ von 2020 auf die christlich-islamische Geschichte der sieben „Schlafenden von Ephesus“ zurück.
Ein von Lin May Saeed bevorzugter Werkstoff war Styropor, etwa bei ihrer Tierskulptur „Pangolin“ von 2020. Das Schuppentier, das im Zuge der Corona-Pandemie traurige Berühmtheit erlangte, gehört zu den meistgeschmuggelten Tieren weltweit und ist vom Aussterben bedroht. Obwohl der Handel verboten ist, floriert der Schwarzmarkt. In ferner Zukunft wird Lin May Saeeds „Pangolin“ jedoch noch bestehen. Denn anders als die klassischen Materialen der Bildhauerei, wie Bronze und Marmor, ist Styropor nicht biologisch abbaubar. So sieht die Künstlerin das auf Erdöl basierende Material als Warnung in Anbetracht hochaktueller Umweltproblematiken, nutzt es gleichzeitig jedoch als emanzipatorisches Mittel, das auch ohne große körperliche Kraft leicht zu bearbeiten ist, und kreiert aus dieser vielfach weggeworfenen, „armen“ Substanz Kunstwerke in provisorisch und naiv anmutender Qualität.
Um der Kunst Saeeds noch eine weitere Dimension zu erschließen, stellt Kuratorin und Direktorin Kathleen Reinhardt ihren Arbeiten Werke von Renée Sintenis gegenüber. Die Bildhauerin der Moderne, die ebenfalls nach einer Sprache und Abbildbarkeit der Beziehungen zwischen Tier und Mensch suchte, feierte ihren Durchbruch in den 1920er Jahren mit kleinformatigen Tierskulpturen. So nimmt die Schau auch den Wandel des gesellschaftlichen Bildes vom Tier in den letzten 100 Jahren in den Blick und verweist auf eine neue Aktualität in unserer Wahrnehmung und in unserem Umgang mit anderen Lebewesen, wie beispielsweise auf die Rolle industrieller Tierhaltung im Fortschreiten der Klimakatastrophe.
Die Ausstellung „Lin May Saeed. Im Paradies fällt der Schnee langsam – Ein Dialog mit Renée Sintenis“ ist bis zum 25. Februar 2024 zu sehen. Das Georg-Kolbe-Museum hat täglich außer dienstags von 11 Uhr bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 8 Euro, ermäßigt 5 Euro; bis 18 Jahre ist er kostenlos.
Georg-Kolbe-Museum
Sensburger Allee 25
D-14055 Berlin
Telefon: +49 (0)30 – 30 42 144 |